Der gesundheitsorientierte Halbmarathon – ein Widerspruch?
„Laufe wie ein steinzeitlicher Jäger“ – ist der Titel meines jüngsten Kursangebots das ich in 2019 zum ersten mal anbiete.
Von Jörg Schimitzek
Normalerweise darf ich meine Kursteilnehmer über einen Zeitraum von 4 Monaten – Basiskurs mit anschließendem Aufbaukurs – begleiten. Es ist immer eine sehr intensive und schöne Zeit und schon einige Wochen vor dem nahenden Kursende wird die Frage laut: “Was machen wir denn nach dem Kurs?”. Eine Fortführung weiterer regelmäßiger gemeinsamer Lauferlebnisse ist im Wäller Lauftreff möglich. Allerdings laufen wir an unseren freitäglichen Lauftrefftagen nicht über Distanzen von 10 Kilometer hinaus.
Den häufig geäußerten Wunsch gemeinsam einen Halbmarathon zu bestreiten hatte ich bislang immer zurückgewiesen. Obwohl ich die Langstrecke liebe und privat an Ultraläufen teilnehme (und finishe) stand allein die Distanz von mehr als 21 Kilometern im Widerspruch zu meinem bisherigen Verständnis in Bezug auf die gesundheitsorientierten Lauferei. Irgendwie schwirrte mir aber dennoch immer wieder die Idee eines Kursmoduls über die Halbmarathondistanz im Hinterkopf herum. Ist es vielleicht doch möglich, zwei scheinbar gegensätzliche Kursziele wie das gesundheitsorientierte Laufen und den Halbmarathon unter einen Hut zu bekommen?
Über Jahrmillionen hinweg bewährtes Lebenskonzept
Bei meiner Arbeit als Lauftherapeut und insbesondere bei der Entwicklung neuer Angebote steht stets die Frage nach der Kompatibilität mit meinen Ansprüchen an ein modernes aber artgerechtes Leben im Vordergrund. Wenn man den wissenschaftlichen Beschreibungen glauben schenken darf, haben unsere frühen jagenden und sammelnden Vorfahren täglich Strecken von bis zu 30 Kilometern zurückgelegt. Da dieser Bewegungsumfang über Jahrmillionen hinweg fester Bestandteil des Lebens war, darf wohl angenommen werden, dass Ausdauerlauf weder eine außerordentliche Leistung war noch dem Ziel der Gesunderhaltung eines Menschen entgegenwirkt. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte, dass wenn man es richtig angeht und Körper, Geist und Seele gemeinsam trainiert, dann verdient ein solches Programm als erstes die Bezeichnung gesundheitsorientiert.
Das Kursmodul “Laufen wie ein steinzeitlicher Jäger” der Laufschule Westerwald ist als eine bewegte, achtsame Reise durch die Natur zur Einfachheit des Menschseins zu verstehen. Viel wichtiger als eine möglichst schnelle Zielzeit ist uns der Aufenthalt in der Natur was selbsterklärend nicht mit hohen Lauftempi und Streckenrekorden in Einklang zu bringen ist.
Als Kern des Moduls lassen sich folgende Schwerpunkte identifizieren:
Heimat – den geografischen Naturraum des Westerwalds, seine Landschaften, die Kultur und einige historische Besonderheiten laufend entdecken, erleben und begreifen.
Kulinarik und Waldmedizin – entdecken und bestimmen ausgewählter Wildkräuter sowie deren Verwendung in der Paläo Küche und der Waldmedizin.
Meditation – Entdecken des langsamen, langen Ausdauerlaufs als Weg der Meditation sowie Shinrin Yoku – das Waldbaden.
Rückverbindung mit der Natur – “Ich bin der Mensch und die Pflanzen und Tiere sind die Natur.” Sich selbst nicht länger als abgespaltenen Teil der Natur, sondern vielmehr wieder als Teil des Ganzen begreifen und sich die eigene Identität als “Homo sapiens” vergegenwärtigen.
Einfach einfach – Maximaler Komfort bei minimaler Anstrengung – ist die gegenwärtige Gleichung des “Homo technicus digitalis”. Dass diese Gleichung nicht stimmen kann, wissen wir (hoffentlich). Mein dringender Rat an dieser Stelle: Mache es dir unbequem und verlasse dringend deine Komfortzone. Selbstverständliche Alltagsgegenstände mühsam aus Naturmaterialien herstellen, Feuer machen ohne Streichholz und Barfuß gehen sorgen für die notwendige Erdung und schärfen deinen Blick für das Wesentliche und die Dankbarkeit für die kleinen Wunder im Leben.
Jetzt aber zur Strecke
An unserem 4. Kurstag wollen wir den Bärenkopp im Wiedtal bezwingen. Der rheinische Teil des Westerwalds war schon oft Ziel meiner gemeinsamen Ausflüge mit Oli und Nanuk. Heute sind wir als Gruppe von 8 Teilnehmern unterwegs. Übrigens, die Wäller Tour Bärenkopp ist vom Wandermagazin als Deutschlands schönster Wanderweg 2019 nominiert worden.
Die Tour ist mit ihren 12,97 km inklusive Ab- und Zuweg vom Parkplatz sowie 389 Aufstiegsmetern sehr anspruchsvoll. Hinzu kommt eine technisch durchaus herausfordernde Strecke mit stark variierenden Untergründen. Von Asphalt bis steinigem Singletrail ist alles dabei. Man kann sagen, die Strecke ist so etwas wie eine Selbstbestätigung für die angehenden Halbmarathonis. Dem einen oder anderen fehlt es noch ein wenig an Selbstbewusstsein, den Abschlusslauf über 21 Kilometer im September tatsächlich meistern zu können. Das Thema wird am Ende des Tages dann wohl “gegessen” sein, denn der Abschlusslauf hat annähernd die gleichen Höhenmeter aufzuweisen wie unser heutiger Ausflug.
Vorbei am denkmalgeschützten Jüdischen Friedhof
Die Strecke befindet sich wie alle Wäller Touren in einem ganz ausgezeichneten Zustand – vielen Dank an die Streckenwarte – und ist hervorragend ausgeschildert. Die Mitnahme eines GPS Gerätes ist nicht zwingend erforderlich. Wir starten auf dem Parkplatz in Waldbreitbach und biegen in nördlicher Richtung auf den Track ein, so dass wir die Strecke im Uhrzeigersinn laufen. Nach rund 2,5 Kilometern erreichen wir den heute denkmalgeschützten Jüdischen Friedhof der um 1830 eröffnet und bis 1940 belegt wurde.
Serpentinen führen uns bergan und wir laufen einige Zeit parallel zum Hochscheider Bach in nordöstlicher Richtung. Ständig muss man im Leben Entscheidungen treffen, so auch kurz vor Verscheid, denn hier bietet die Tour eine kurze aber knackige Steigung in Form eines einsamen Singletrails oder die Alternativroute – flacher aber dafür länger. Ein Teil von uns nimmt die Challenge an, die anderen nehmen die gelb markierten 850 Meter auf sich und alle sind zufrieden.
Das weiße Gipfelkreuz
Endlich sind wir angekommen, auf dem 304 Meter hoch liegenden Bärenkopp mit weißem Gipfelkreuz. Der Namen gebenden Aussichtspunkt unserer Tour ist wahrlich ein landschaftliches Kleinod. Du genießt einen phantastischen Blick über die grünen Täler und sanften Hügel des Wiedtals und ich habe wieder dieses wunderbare Gefühl an einem ganz besonderen Kraftort angekommen zu sein, an dem eine tiefere Verbindung mit der Natur besonders leicht fällt.
Waldbreitbacher Franziskanerinnen
Von der Natur mit neuer Kraft versorgt setzen wir unsere kleine Reise fort, denn es liegen noch circa 7 Kilometer vor uns die sich nicht von selbst laufen. Nach einem kurzen urbanen Abstecher in das Örtchen Glockscheid laufen wir quasi von oben direkt auf die Mutterhauskirche der Waldbreitbacher Franziskanerinnen zu. Über einen Teil des Kreuzweges geht es weiter nach unten und in Richtung Waldbreitbach. An der Kreuzstraße angekommen verrät mir ein Blick auf die Karte, dass wir nur 300 m vom Parkplatz entfernt sind aber das verrate ich den anderen selbstverständlich nicht, denn schließlich trainieren wir für einen echten Halbmarathon. Wir schlagen also noch einen amtlichen Haken nach Süden und genießen weitere 1,7 Kilometer einsame Wege entlang der Wied bis zum Ausgangspunkt der Tour.